Buchtipps 2023 Herbst Erwachsene
Buchtipps 2023 Herbst Erwachsene
Im letzten Licht des Herbstes
Mary Lawson
High noon in Solace, Ontario.
Die Geschichte spielt in einer kleinen Stadt im Norden Kanadas und wird aus der Sicht der drei Hauptfiguren erzählt. Da ist zum einen die 7-jährige Clara. Nach einem Streit mit der Mutter ist ihre Schwester Rose spurlos verschwunden. Ihre Mutter versinkt in ihrem Schmerz und der Vater macht auf „alles wird gut“. Unglücklicherweise muss auch noch ihre Freundin und Vertraute, die alte Mrs. Orchard von nebenan, ins Krankenhaus und kommt auch nicht, wie versprochen, nach ein paar Tagen zurück. Jeden Tag kümmert sich Clara um Moses, den Kater von Mrs. Orchard. Da taucht eines Tages ein Fremder auf, Liam Kane. Er zieht ins Haus nebenan ein und bringt die Ereignisse ins Rollen. Wie die Lebensgeschichten von Mrs. Orchard und Liam Kane verbunden sind und warum ausgerechnet der verschlossene Liam Claras Vertrauen gewinnt, wird sehr stimmungsvoll erzählt. Und obwohl die Geschichte eher unspektakulär ist, entwickelt sie einen großen Zauber und kann sowohl im Herbstlicht oder sonstigem Licht mit viel Freude gelesen werden.
Margret Thorwart
Das leise Platzen unserer Träume
Eva Lohmann
Wie das Leben spielt
Jule ist mit ihrem Mann David aufs Land in ein altes Bauernhaus gezogen, um das idyllische Leben zu führen, von dem sie geträumt hat. Doch manchmal hält das Leben sich nicht an die Pläne die man hat. Und manchmal ist es nicht der laute Knall, mit dem eine Beziehung endet, sondern die Gefühle schleichen sich ganz allmählich davon, leise platzen die früheren Träume.
Früher war sie die „Stadt-Jule“, die mit ihrer Selbständigkeit erfolgreich und fest in ihrem Leben in der Großstadt verankert war. Nun steckt in ihr daneben auch die „Land-Jule“, die sich in das Dasein auf dem Dorf einfinden muss und langsam in diese Rolle hineinwächst. In vielen Situationen stellt sich die Frage: Stadt-Jule hätte dies getan – doch wie sollte die Land-Jule sich verhalten? Und ebenso häufig fragt Jule sich: Wie soll es mit ihrem Mann und ihr weitergehen, wie lange sollen sie diese Beziehung, die keine mehr ist, noch aufrechterhalten, soll sie gehen oder bleiben?
Auf der anderen Seite ist da Hellen; Städterin, alleinerziehende Mutter und die Geliebte von David. Sie führt in Gedanken lange Zwiegespräche mit Jule und es wird deutlich, wie ähnlich die Frauen sich im Grunde sind.
Der fortlaufende Wechsel der beiden Erzählperspektiven – Jule in der dritten Person, Hellen als Ich-Erzählerin – führt dazu, dass man sich mit beiden Frauen gut identifizieren kann; jede Sichtweise erscheint richtig und in Ordnung, niemandes Handeln wird verurteilt. Beeindruckend und inspirierend ist, dass Jule auch angesichts des Betrugs ihres Mannes nie laut, rachsüchtig oder bitter wird, sondern immer ausgeglichen und ruhig bleibt.
Trotz des etwas schwierigen Themas ist Eva Lohmanns Roman nicht traurig oder negativ, sondern liest sich sehr leicht. Es wird von einer starken, mutigen Frau erzählt, die langsam zu sich selbst zurückfindet, ihre Wünsche wieder entdeckt und ihren eigenen, für sie richtigen, Weg geht.
Melanie Weise
Die Mutter
Melba Escobar
Ein spannender Roman über politische Gewalt
Melba Escobar ist eine der bedeutendsten Stimmen zeitgenössischer kolumbianischer Literatur. Sie erzählt in ihrem Roman „Die Mutter“ von der Gewalt in Kolumbien und dem Unglück einer Frau, die ihren Sohn verliert.
In einem Einkaufszentrum der kolumbianischen Hauptstadt Bogotà wird ein Sprengstoffanschlag verübt. Cecilias Sohn Pedro war dort, um ein Geschenk zu kaufen. Jetzt wird er vermisst. In den Stunden der Ungewissheit lässt Cecilia die Vergangenheit Revue passieren und hofft Pedro bald wieder in die Arme schließen zu können. Doch dann wird behauptet, dass er den Anschlag verübt hat und Cecilia weiß nicht mehr, was sie glauben und hoffen soll.
Während seine Mutter auf eine Nachricht von ihm wartet, denkt sie an seine Kindheit zurück. Und an seinen Vater, der vor Pedros Geburt starb. 17 Jahre hat sie dem Sohn verschwiegen, wie sein Vater zu Tode kam – ein Familiengeheimnis mit fatalen Folgen. Immer wieder wird Cecilia jäh aus ihren Erinnerungen gerissen und mit der Gegenwart konfrontiert.
Eines schimmert im Roman sehr deutlich durch: Die Kluft zwischen Arm und Reich schadet auch denen, die keinen Mangel leiden. Für Kolumbien-Fans ist „Die Mutter“ ein Muss, und wer sozialkritische Romane mag, die obendrein spannend sind, wird Melba Escobars Buch gerne lesen. Ein packender Roman und dennoch sehr einfühlsam!
Barbara Casper
Die verlorene Tochter
Soraya Lane
Romantischer Auftakt einer Familiensaga
Lily ist mit Herz und Seele Kellermeisterin und seit Jahren in den unterschiedlichsten Weinregionen unterwegs, um sich weiterzubilden. Nachdem sie in Neuseeland war, kehrt sie nach Europa zurück, um in Italien bei der berühmten Winzerei der Familie Rossi zu lernen. Zuvor möchte sie einen kurzen Zwischenstopp in London bei ihrer Mutter einlegen. In der Wohnung ihrer Mutter angekommen, merkt sie, dass diese kurzfristig nach Italien gereist ist. Zwischen den ungeöffneten Briefen ihrer Mutter entdeckt sie auch einen Brief einer Anwaltskanzlei, welcher ihr Interesse weckt. Lily kommt dem Ersuchen des Briefes nach und fährt zwei Tage später in die Anwaltskanzlei. Vor Ort sieht sie, dass sie nicht die einzige ist, sondern außer ihr fünf weitere Personen anwesend sind. Sie alle sind dort, da ein ehemaliges Londoner Frauenhaus aufgelöst wird und für jede Familie ein Holzschächtelchen mit einem Namen hinterlegt ist. Lilys Schachtel, welche den Namen ihrer Großmutter trägt, enthält zum einen ein handgeschriebenes Rezept auf Italienisch und außerdem ein Programm des Mailänder Opernhauses. In Italien angekommen macht sie sich auf die Spurensuche ihrer Vergangenheit. Schafft sie es herauszufinden, was es damit auf sich hat?
Soraya Lane schreibt eine wunderschöne Familiensaga, die zugleich in der Vergangenheit um 1946 sowie in der Gegenwart spielt. Die Charaktere nehmen einen mit in ihre Welt und zeigen den Krieg und die Probleme der damaligen Zeit auf. Oder man kann sich auch einfach in das Italien der Gegenwart auf ein familiäres Weingut träumen, mit Lily durch die Weinberge streifen und abends mit der Familie Rossi am Tisch sitzen.
Madeleine Spengler
Die Einladung
Emma Cline
Als Außenseiterin bei den Schönen und Reichen
Am wohlsten fühlt sich Alex wenn sie im Meer schwimmt. Im Meer sind alle gleich, dort kann sie nicht als Außenseiterin auffallen. Simon hat sie eingeladen, den Sommer mit ihm zu verbringen, ein reicher Finanzmakler mit guten Manieren, den sie in der Stadt kennengelernt hat. Die 22-jährige Hochstaplerin Alex lässt sich von dem reichen New Yorker Kunsthändler Simon in dessen Urlaubsresidenz in Long Island aushalten und lässt auf Partys, auf denen sie das hübsche Mitbringsel spielen muss, unzählige Kostbarkeiten mitgehen.
Unklar, warum Simon sie rausschmeißt. Es könnte am Kratzer liegen, den Alex an seinem „beängstigend schnellen" Auto verursacht. Oder an seiner Blamage, als sie bei einer Abendgesellschaft in den Swimmingpool fällt. Eins aber ist klar: Alex kann nicht zurück.
Wieder in New York ist sie mit ihrer Obdachlosigkeit, ihren Schulden und einem Ex-Freund konfrontiert.
Ein Roman, der das Machtfeld der Geschlechter noch einmal neu auslotet, hin zum Abgrund, der dann aber letzten Endes leider ausgespart wird. Emma Cline ist ein Roman gelungen, der die gesellschaftlichen Verhältnisse von Arm und Reich und das Verhältnis von Männern und Frauen schonungslos und absolut ergründet. Sehr lesenswert.
Barbara Casper
Südfall
Florian Knöppler
Ein Roman der leisen Töne und dennoch sehr berührend
Wieder einmal muss ich gestehen, dass mich das Cover eines Buches sehr angesprochen hat und ich glücklicherweise zu diesem Roman der leisen Töne gegriffen habe. Es hat sich gelohnt und ich wünsche Ihnen ebenso viel Lesefreude mit diesem kleinen, feinen Buch.
Die Geschichte ist im Jahr 1944 angesiedelt. Dave, ein englischer Pilot, stürzt mit seiner Maschine ab und überlebt als einziger. Er kommt im Wattenmeer an der deutschen Küste zu sich und ist zunächst orientierungslos, auch aufgrund des Nebels. Rechtzeitig vor der beginnenden Flut rettet ihn eine alte Dame und nimmt ihn mit auf die Hallig Südfall, wo sie allein mit ihren Tieren lebt.
Dave könnte eigentlich auf der Hallig bleiben, er wäre relativ sicher und könnte das Ende des Krieges abwarten, doch es zieht ihn nach Hause. Also macht er sich auf den gefährlichen Weg an der deutschen Küste entlang über Dänemark zurück nach England. Auf diesem Weg ist er auf Hilfe angewiesen und es sind die Begegnungen mit den helfenden Menschen, die dieses Buch so besonders machen. Der Autor deutet manches nur an und doch ahnt man, wieviel mehr hinter den Personen und hinter den Begegnungen im Verborgenen bleibt – oder eben auch nicht.
Ein schönes Buch für einen Wintertag auf dem Sofa. Viel Freude damit.
Theresia Oppold
Rauch und Schall
Charles Lewinsky
Goethe in der Schaffenskrise
Zurück aus der Schweiz hofft Goethe darauf, dass er durch die neuen Reisen Inspirationen und Einfälle für weitere, große Werke findet. Es kommt allerdings gänzlich anders. Auf seinem Schreibtisch wartet ein verhasster Auftrag, welcher ihn schwer unter Druck setzt. Und so kommt sein ungeliebter „Schwager“ und ebenfalls Schriftsteller, Christian August Vulpius ins Spiel. Dieser ist sehr darauf erpicht, seinem berühmten Vorbild aus der Misere zu helfen.
Herrlich witzig und unterhaltsam.
Patricia Mock
Paradise Garden
Elena Fischer
Glück hat viele Namen
Wie ist es für ein junges Mädchen in schwierigen finanziellen Verhältnissen ohne Vater aufzuwachsen, am Ende des Monats kaum noch Geld zu haben? Dennoch ist die 14-jährige Billie glücklich. Sie hat viele Namen für das Glück und „Paradise Garden“ ist einer davon. So heißt der Debütroman von Elena Fischer und der Eisbecher, den sich Billie und ihre Mutter am Anfang des Monats gönnen, wenn noch genug Geld da ist. Mit viel Fantasie und Liebe versucht Marika ihrer Tochter ein schönes Leben bei aller Hochhaustristesse zu bieten. Es ist anrührend, wie die Autorin es verstanden hat, diese besondere Mutter-Tochter- Beziehung zu schildern.
Doch dann zerbricht diese Idylle: die Mutter stirbt und Billies Welt zerbricht. Sie hatte so viele Fragen - die wichtigste ist die nach ihrem Vater. Und warum Marika trotz ihrem Optimismus, ihrer Kraft immer mit erhobenem Haupt nach vorne zu schauen, so seltsam hartnäckig über alles Vergangene schwieg. Auch die ungeliebte Großmutter aus Ungarn, die nach Deutschland gekommen ist und der Billie die Schuld am Tod der Mutter gibt, hat keine Antworten. Für das junge Mädchen, das so vieles verarbeiten muss, wächst das Bedürfnis ihren leiblichen Vater zu finden. Sie möchte verstehen, die fehlenden Puzzlesteine im Leben ihrer Mutter aufdecken. Sie findet in einer versteckten Kiste Hinweise und begibt sich mit dem alten Familienauto auf eine ungewisse Fahrt. Am Ende findet sie nicht genau das, was sie sich erhofft hat. Vielleicht aber doch etwas viel Besseres, denn jetzt kann sie ihre eigene Geschichte erzählen und trotz aller Trauer gibt es wieder neue Namen für Glück in ihrem Leben.
Ein feinfühliger Erstlingsroman für Jugendliche und Erwachsene. Der Roman steht zu Recht auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis 2023.
Elke Weirauch-Glauben
Wilde Jagd
René Freund
Ein Philosophieprofessor in der Krise
Quintus Erlach ist Professor für Philosophie und steckt in einer ernsten Ehekrise. Er nutzt sein leerstehendes Elternhaus im beschaulichen Ort Stein zum Nachdenken und Fertigstellen seines neuen Buches. Zur Ruhe wird er allerdings nicht kommen. Durch Evelina, die als Pflegerin im Ort arbeitet, erfährt er, dass ihre Vorgängerin auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Sie bringt Quintus dazu, sich an der Suche zu beteiligen und bald wird klar, dass es in dem kleinen Dorf alles andere als beschaulich zugeht. Die Jagd ist eröffnet und der Leser darf sich auf viele Überraschungen gefasst machen
Patricia Mock
Bergleuchten
Karin Seemayer
Geschichte des Gotthardtunnel-Baus
Schauplatz dieses Romans ist das kleine Dorf Göschenen am Fuß des Gotthard. Dort lebt Helene mit ihrer Familie. Helenes Vater ist Fuhrunternehmer. Täglich transportiert er Waren über den Gotthardpass und ernährt so seine Familie. Als 1872 der Bau des Gotthardtunnels beginnt, welcher 10 Jahre dauern wird, ändert sich alles für Helene und die Dorfbewohner. Die Fuhrunternehmer bangen um ihre Existenz und die italienischen Bergarbeiter werden nicht von allen Bewohnern willkommen geheißen.
Karin Seemayer ist ein fesselnder historischer Roman gelungen!
Ulla Leber
Das Glück der Geschichtensammlerin
Sally Page
Geschichten verändern das Leben
Janice ist von den vielen kleinen Lebensgeschichten, die ihr erzählt werden, zutiefst fasziniert. Sie erfährt viel in ihrem Beruf als Putzfrau, die Menschen vertrauen ihr.
Wie kleine Schätze bewahrt sie das Gehörte in ihrem Kopf, um sich, wenn sie es für ihr eigenes Seelenheil braucht, zu erinnern. Die teils melancholischen, mal lustigen, manchmal auch herzerwärmenden Geschichten geben ihr die Kraft, mit ihrem eigenen Leben fertig zu werden. Als Leser ist man schnell verzaubert von Janice, die über die große Gabe des Zuhörens verfügt und viel Empathie für andere besitzt. Über ihren eigenen schmerzhaften Geschichten, ob vergangene oder gegenwärtige, liegt gleichsam ein verhüllendes Tuch. Erst als sie auf die schillernde 92-jährige Mrs. B trifft, ändert sich das. Zug um Zug, Geschichte für Geschichte öffnet sich Janice für ihre Vergangenheit und besonders für das Hier und Jetzt. Für ihr eigenes Glück muss sie die Rolle der Zuhörerin verlassen. Es macht große Freude, ihr und den anderen Protagonisten in diesem Roman zu folgen. Da sind zum Beispiel Geordie, der berühmte Sänger mit viel Herz, „um das eine Opernpartitur gewickelt ist“, oder Fiona und ihr Sohn Adam, an deren trauriger Situation Janice sehr viel Anteil nimmt. Nicht zu vergessen Mrs. B, ehemalige Geheimagentin, deren ab und an aufblitzende altersbedingte Gebrechlichkeit sie nicht daran hindert alle an die Wand zu spielen. Da ist Decius, ein Hund, der es schafft sich tief in Janices Herz zu schleichen. Zum Glück ist da aber noch viel Platz für…
Mit einem Glücksgefühl und leisem Bedauern schließt man am Ende das Buch. Vielleicht schaut auch der ein oder andere Leser verstohlen nach Reisemöglichkeiten nach Cambridge. Den herrlichen Charakteren und liebevoll gezeichneten Schauplätzen würde man am liebsten selbst begegnen. Eine wunderbare Lektüre für lange dunkle Abende.
Elke Weirauch-Glauben
22 Bahnen
Caroline Wahl
Erwachsen werden in prekären Verhältnissen
Eine alkoholkranke Mutter, die immer wieder gewalttätig wird, der Vater hat sich längst
verabschiedet und eine kleine Schwester im Grundschulalter – wie schafft man es als junge Frau Anfang 20, mit dieser Situation fertig zu werden? Tilda ist hoch intelligent, studiert Mathematik und wird von ihrem Professor aufgefordert, sich in Berlin um eine Promotionsstelle zu bewerben. „Nebenbei“ arbeitet sie in einem Supermarkt, um ihr
Studium zu finanzieren und für sich und die kleine Schwester den Lebensunterhalt einigermaßen sicherzustellen, auch wenn es immer nur für die günstigsten Produkte reicht.
Die Ich-Erzählerin lässt uns teilhaben an ihren Hoffnungen und Träumen, Zeiten der Verzweiflung und Erschöpfung. Die Kraft, sich immer wieder der Situation zu stellen schöpft sie aus der Verantwortung für ihre Schwester, ihrer Liebe zur Mathematik - alles analysiert sie mathematisch genau – und die Flucht aus dem Alltag in Bücher und ins Schwimmbad, wo sie immer wieder „abtaucht“. Und dann ist da noch Viktor….
Caroline Wahl nimmt ihre Protagonistin ernst, der Ton der Ich-Erzählerin ist ironisch-selbstkritisch und niemals sentimental. Ein beeindruckendes Erstlingswerk, das man nicht gerne aus der Hand legt. Ein wunderbares Buch über das Erwachsenwerden, das Mut macht.
Caroline Wahl wird für ihren Roman „22 Bahnen“ mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis ausgezeichnet und ist das Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023. Zu Recht!
Christa Seitz
Regen - Eine Liebeserklärung
Ferdinand von Schirach
Ein Theatermonolog
In der Handlung geht es um einen Mann, der durchnässt aus dem Regen in eine Bar kommt und über Verbrechen und Strafen nachdenkt, über das Großartige und das Schreckliche unserer Zeit, über die Würde des Menschen, die Einsamkeit, die Liebe, den Verlust und das Scheitern. In dem Prozess geht es um eine Beziehungstat: Ein Mann hat seine Partnerin erstochen. Der Fall setzt bei der Hauptfigur, also dem Schriftsteller und Laienrichter, einen Denkprozess in Gang. Er denkt darüber nach, dass es unmöglich ist, neutral zu urteilen. Er denkt nach über Schuld und Unschuld, über die Würde des Menschen, über das Schreiben und die Kunst – wie auch generell über Gutes und Schlechtes in unserer Zeit.
Nach dem „Regen“ Text folgt ein ausführliches Interview, das die «Süddeutsche Zeitung» vor einem Jahr mit Ferdinand von Schirach geführt hat. Darin spricht der Star-Autor ungewohnt offen über die Depression, an der er seit seiner Kindheit leidet. Und er verrät allerhand Lebensweisheiten.
Barbara Casper
Mit dem Theatermonolog „Regen“ ist Ferdinand von Schirach erstmals als Schauspieler zu erleben. Auch in Remchingen: Am Donnerstag, den 14. März 2024 um 20.00 Uhr in der Kulturhalle Remchingen.
Das dritte Licht
Claire Keegan
Die Macht des Ungesagten
Irland, die Familie eines Kesselflickers in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Frau erwartet das 5. Kind, von denen jedes als Last empfunden wird. Emotionale Nähe wird zum Luxus, den sich die Familie nicht leisten kann. Und so bringt der Vater seine 8-jährige Tochter zu kinderlosen Verwandten im Süden, wo sie „so lange bleiben kann, wie sie sie [haben] wollen“. Dort lernt die Kleine, was Familie auch sein kann – Zuneigung, Wärme, Raum zum Nachdenken. Aber es gibt auch ein Geheimnis…
In dem schmalen Roman erzählt Claire Keegan mit großem Feingefühl die berührende Geschichte aus der Perspektive des Mädchens in einfacher, klarer Sprache. Was das Kind nicht versteht, bleibt ungesagt und vieles wird nur angedeutet und so wird der Leser unmittelbar in die Geschichte hinein geholt. Ein Zitat von Antoine de Saint-Exupéry beschreibt den Schreibstil Keegans vielleicht am besten: „Vollkommenheit entsteht offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.“
Eine wunderschöne Erzählung!
Christa Seitz
Brüderchen
Clara Dupont-Monod
Tief bewegend
Eine Familie in den Cevennen. Mutter, Vater, ein zehnjähriger Sohn, eine achtjährige Tochter. Dann kommt ein weiteres Kind zur Welt. Dieses Kind, so stellt sich bald heraus, ist anders. Es wird nie laufen, sprechen oder sehen können. Niemand weiß, was es überhaupt wahrnimmt. Clara Dupont-Monod beschreibt, wie unterschiedlich die beiden großen Geschwister und ein weiteres, später geborenes Kind auf das Brüderchen reagieren, wie sie mit dieser Situation umgehen. Zuneigung oder Flucht, Verantwortung oder Abneigung, diese Gefühlswelten beschreibt die Autorin in einem unvergleichlichen, poetischen Ton, der uns bannt und mitten in diese Familie hineinzieht. Und trotz des Themas hinterlässt dieser feine kleine Roman uns Leser*innen glücklich.
Sven Puchelt
Die Formel der Hoffnung
Lynn Cullen
Roman nach der wahren Geschichte einer beeindruckenden Ärztin
Dorothy kommt aus ärmlichen Verhältnissen. Ihre erste Anstellung als Kinderärztin bekommt sie nur, weil dem Chefarzt nicht bewusst ist, dass es sich bei D. M. Horstmann um eine Frau handelt. Dorothy fällt auf in den 40er Jahren in den amerikanischen Krankenhäusern. Sie ist 1,85m groß und – zu dieser Zeit meist die einzige Frau unter männlichen Kollegen. Dorothy Horstmanns Ziel ist es, das Polio-Virus zu erforschen und auszurotten. Immer wieder legt „man(n)“ ihr Steine in den Weg, doch Dorothy gibt nicht auf. Die Geschichte einer klugen, mutigen und empathischen Ärztin, deren Namen ich persönlich vorher nie gehört hatte und deren Bedeutung für die Entwicklung des Polioimpfstoffes ich nicht kannte. Danke Lynn Cullen.
Ulla Leber
Bournville
Jonathan Coe
This is very British
In "Bournville" erzählt Jonathan Coe knapp einhundert Jahre britischer Geschichte anhand des Lebens von Mary Lamb und ihrer Familie in Bournville, dem Sitz der legendären Cadbury Schokoladenfabrik.
Ankerpunkte in diesem Familienepos sind wichtige Ereignisse in der Geschichte des Landes wie Weltkriegsende, Krönung Elizabeths, Finale der WM 1966, die Beisetzung Dianas und der Brexit, zu denen die weitverzweigte Familie zusammenkommt. Diese Schlaglichter nutzt Jonathan Coe, um ebenso berührend wie lakonisch und mit trockenem Humor von einer Familie in einer britischen Kleinstadt zu erzählen und uns dabei die Seele eines ganzen Landes näherzubringen.
Sven Puchelt
Marschlande
Kubsova
Zwei starke Frauen – getrennt durch Jahrhunderte und doch verbunden
Bereits das erste Buch von Jarka Kubsova, „Bergland“, hat mich sehr begeistert und ich hatte es Ihnen hier in unseren „Buchtipps“ ans Herz gelegt. Das mache ich jetzt mit dem zweiten Titel, „Marschlande“, ebenfalls.
Erzählt wird auf zwei Zeitebenen die wahre Geschichte von Abelke Bleken, einer Bäuerin in den Marschlanden, die vor ca. 450 Jahren als Hexe verfolgt und ermordet wurde und von Britta Stoever.
Britta, eine junge Frau, zieht mit ihrer Familie in die Region. Sie ist von Beruf Geografin und während sie sich auf ihren Erkundungsspaziergängen ihrer neuen Heimat annähert und über ihre neue Situation nachdenkt, entdeckt sie zum ersten Mal den Namen Abelke Bleken. Sie recherchiert und erfährt nach und nach, wie gefährlich das Leben für eine starke und unabhängige Frau um das Jahr 1580 war. Während sich Britta der Geschichte von Abelke Bleken Stück für Stück annähert, entdeckt sie die Liebe zu ihrem Beruf wieder neu, den sie zugunsten der Familie aufgab, und auch die familiäre Situation verändert sich noch einmal.
Dieser Roman rüttelt auf und hallt lange nach. Meine Leseempfehlung für den Herbst!
Theresia Oppold
Hildur - Die Spur im Fjord
Satu Rämö
Ein fabelhaftes Ermittlerduo in den rauen Westfjorden Islands
Die Autorin Satu Rämö ist Finnin und kam vor zwanzig Jahren für ein Auslandssemester nach Island. Heute lebt sie mit ihrem isländischen Mann und zwei Kindern in Isafjördur im
Nordwesten Islands. Dort ist auch ihre Krimireihe um die Kommissarin Hildur angesiedelt. Hildur surft gerne in den eisigen Wellen vor der Küste. Das hilft ihr, den Schmerz zu vergessen. Vor fünfundzwanzig Jahren verschwanden ihre beiden kleinen Schwestern spurlos. Diesen Verlust hat sie nie überwunden.
Als in Isafjördur nach einem Lawinenabgang ein Toter mit durchgeschnittener Kehle unter
den Schneemassen gefunden wird, beginnt sie mit ihrem neuen Kollegen Jakob aus Finnland zu ermitteln. Jakob hat in einer Lebenskrise das Stricken als Hobby für sich entdeckt. Da es ihm Islandpullover besonders angetan haben, hat er sich ohne zu zögern auf die freie Stelle in den rauen und einsamen Westfjorden Islands beworben. Es kommt zu weiteren Morden und im Laufe der Ermittlungen tauchen zudem unerwartet Hinweise zum Verschwinden der beiden Schwestern auf.
Ein gelungener Auftakt einer sagenhaft spannenden Krimireihe.
Jeannine Beihofer
Die Passage nach Maskat
Cay Rademacher
Die Goldenen Zwanziger auf hoher See
Sommer 1929, der letzte der Goldenen Zwanziger. Jazz, Kokain und das Party-Leben bestimmen das Leben der Menschen, so auch auf dem luxuriösen Oceanliner Champollion, der von Marseille über den Suezkanal bis Maskat reist. Auf ihm befindet sich auch Theodor Jung, ein traumatisierter Kriegsveteran, der nun als Fotoreporter für die Berliner Illustrierten, der größten Zeitschrift Europas, arbeitet. Seine Frau Dora begleitet ihn. An Bord sind Passagiere der High Society: eine skandalumwitterte Nackttänzerin aus Berlin, ein mysteriöser römischer Anwalt, eine adlige Lady und ein scheinbar naiver amerikanischer Ingenieur. Aber auch aus der Berliner Unterwelt treiben sich düstere Gestalten an Bord herum. Ebenfalls dabei die Rostergs, Doras Familie - die Theodor Jung verachten - in Begleitung von Bertold Lüttgen, der ein Auge auf Dora geworfen hat. Sie wollen mit den sagenhaften Gewürzen des Orients handeln. Als Dora nach wenigen Tagen an Bord spurlos verschwindet, wird die Reise für Theodor Jung zu einem Albtraum. Denn nicht nur die Rostergs, auch alle anderen Leute an Bord behaupten, Dora nie gesehen zu haben. Jung sucht verzweifelt nach ihr und begibt sich selbst in Lebensgefahr.
Eine geniale Kriminalgeschichte, perfekt dargestellt in den Goldenen Zwanzigern. Von Anfang bis Ende Spannung pur, man weiß nicht, was mit Dora passiert ist.
Wird Jung sie finden?
Thorben Ernst (15 Jahre)
C° - Celsius
Marc Elsberg
Klima als Waffe?
China entwickelt eine neue Technologie, mit der es das Klima beeinflussen kann. Dadurch hat China eine neue, bisher wenig erforschte Waffe. Zunächst haben die anderen Länder wenig Ahnung, wie sie darauf reagieren sollen. Eine Klimaforscherin namens Fay schaltet sich ein und erklärt den Ernst der Lage. Doch vorerst funktionieren mehrere Verhandlungen nicht. Verschiedene Staaten des globalen Südens entwickeln ihre eigenen Technologien und bauen hiermit Druck gegenüber Europa und Nordamerika auf.
Marc Elsberg entwirft aus den Blickwinkeln eines Journalisten, einer Klimaaktivistin und einer Familie ein mitreißendes Zukunftsszenario. Durch Zeitsprünge wird dem Leser auch deutlich, wie ernst eine solche Situation für uns alle wäre.
Eine klare Empfehlung für alle Science-Fiction Fans!
Victor Gadd
Glutspur - Die Wurzeln des Schmerzes
Katrine Engberg
Der erste Fall für Liv Jensen
Die dänische Autorin Katrine Engberg, die bereits in den vergangenen Jahren für ihre bei Diogenes erschienenen Krimis um das Ermittlerduo Jeppe Kørner und Anette Werner sehr gute Besprechungen erhalten hat, startet hier eine neue Reihe.
Liv Jensen, ehemalige Kommissarin und jetzt als Privatermittlerin tätig, wird von ihrem früheren Vorgesetzten gebeten, den nie aufgeklärten Mord an einem Journalisten vor drei Jahren nochmals unter die Lupe zu nehmen. Sie kommt dabei in Kontakt zu Hannah Leon, einer Krisenpsychologin, die wegen des Selbstmordes ihres Bruders gerade eine Auszeit nimmt, und Nima Ansari, einem iranischen Automechaniker, der ins Zentrum einer parallelen Mordermittlung gerät. Geschickt verwebt Engberg die drei Handlungsstränge und greift dabei immer wieder auf verschiedenen Ebenen das Thema „Flucht” auf. Dabei schafft die Autorin es, trotz, oder gerade wegen ihres unaufgeregten Erzählstils, einen Spannungsbogen aufzubauen, der mich das Buch fast nicht aus der Hand legen ließ.
Sven Puchelt
Das strömende Grab
Robert Galbraith
Ein furchterregendes Abenteuer
Die Detektivagentur wird von einem wohlhabenden Mann damit beauftragt, dessen Sohn Will aus einer skurrilen Sekte in Norfolk zu retten. Strikes Geschäftspartnerin Robin Ellacott verlässt London, um sich der Sekte anzuschließen und dort unerkannt zu ermitteln.
Doch mit welchen Gefahren muss sie rechnen? Wie reagiert die Sekte und wie kommt sie mit dem Leben dort zurecht? Wie werden Strike und sein Team mit Robin ohne Handy oder Internet in Kontakt bleiben?
Robin wird immer stärker in das Leben in der Sekte hineingezogen und hat immer wieder mit verschiedenen Problemen zu kämpfen. Wird es mit der Rettung Wills klappen? Problematisch ist auch, dass es fast unmöglich ist zu wissen, was wirklich und was genau hinter der friedlich wirkenden Sekte steckt.
J.K. Rowling ist wieder einmal ein faszinierender Roman gelungen, in dem auch die Nebenfiguren eine bedeutende Rolle spielen.
Victor Gadd
Krabat
Otfried Preußler / Mehrdad Zaeri (Ill.)
Der Klassiker neu illustriert
Zu der Geschichte selbst muss eigentlich nichts mehr gesagt werden. Seit nunmehr 52 Jahren schlägt die Geschichte um den Waisenjungen Krabat, der auf der Mühle im Koselbruch in eine schwarze Schule gerät immer neue Leserinnen und Leser in ihren Bann.
Zum 100. Geburtstag Preußlers ist nun eine Ausgabe mit Illustrationen des Mannheimer Künstlers Mehrdad Zaeri erschienen. Die über 80 Bilder, zum Teil kleine Vignetten, zum Teil große, doppelseitige Szenen, muten wie Kohlezeichnungen an, sind aber digital am Tablet entstanden. Zaeri beschränkt sich bei seinen Illustrationen nicht bloß auf das bildliche Darstellen des Textes, sondern fängt auf wunderbare Weise Stimmungen ein, erzählt die Geschichte weiter oder aus anderer Perspektive und lenkt den Blick der Lesenden auf neue Aspekte der Erzählung. Bei unserer Veranstaltung mit Mehrdad Zaeri und Thienemann-Verlegerin Bärbel Dorweiler im Waldbronner Kulturtreff erzählte Zaeri von seinem großen Respekt vor der Aufgabe, die vor ihm lag, als er um Illustrationen zu Krabat gebeten wurde. Er ist der Aufgabe mehr als gerecht geworden.
Sven Puchelt
Breaking Waves - One second to love
Kristina Moninger
W(h)ere is Witty Sue Fisher? – Wo ist Witty Sue Fisher? / Wer ist Witty Sue Fisher?
Zehn Jahre sind vergangen seit Avery zuletzt auf Harbour Bridge war, der kleinen Küste vor South Carolina. Dort hatte sie Isabella, Odina, Lee und Josie im Surfcamp kennengelernt und sie wurden beste Freundinnen. Hier haben die Freundinnen Geheimnisse ausgetauscht, jedoch blieben so manche auch verborgen. Es waren Sommer, auf die sich Avery immer gefreut hat. Bis zu jenem verhängnisvollen Sommer in dem Josie verschwunden ist. Doch nun spielt Avery mit ihrer Band den Abschluss ihrer Tournee auf Harbour Bridge. Danach bleibt sie auf der Insel, denn nun gibt es neue Erkenntnisse um Josie: Avery findet in ihrem Hotelzimmer einen Zeitungsartikel, der Josies geheimen Künstlernamen beinhaltet…
Kristina Moninger schreibt mit diesem Buch eine Geschichte, die mit der Sicht aus der Vergangenheit und der Gegenwart viele Geheimnisse sehr spannend erzählt und bei dem man auch selbst miträtselt. Mir gefallen besonders die unterschiedlichen vielschichtigen Charaktere mit Beziehungsdynamiken und vielen tiefen Emotionen. Bei diesen merkt man sofort, dass etwas in der Luft liegt, was man nicht gleich durchschauen kann. In dem Buch wird eine lebendige Geschichte über Familie, Freundschaften, Liebe und das Erwachsenwerden erzählt. Außerdem überzeugt es mit seiner wunderschönen Aufmachung von Cover und Buchschnitt.
Madeleine Spengler