Buchtipps 2022 Herbst Erwachsene
Buchtipps 2022 Herbst Erwachsene
Berge, 35 Geschichten zwischen unten und oben
Lucia Jay von Seldeneck, Florian Weiß, Mara Burmester
Literatur und Buchkunst
Ein Buch über Berge, das mit einem ein paar Meter hohen Abraum-Hügelchen (dem Fliegeberg, auf dem Otto Lilienthal seine Flugversuche unternimmt) beginnt und mit einem fiktiven Berg (dem Berg Analog aus dem gleichnamigen unvollendeten Roman von René Daumal) endet? Lucia Jay von Seldeneck hat für dieses Buch 35 Berge ausgewählt, zu denen sie manchmal fiktive, manchmal wahre Geschichten erzählt, die uns die Faszination, die von erhöhten Orten in der Landschaft ausgeht, spüren lassen. Zwischen den bereits genannten erheben sich unter anderem die Schneekoppe und der Eyjafjallajökull, der Mount St. Helens und der Olymp oder der Mauna Kea und das Matterhorn. Ergänzt werden die Texte durch Sachinformationen zu den vorgestellten Bergen sowie durch die beeindruckenden, feinen Illustrationen von Florian Weiß. Die Buchgestaltung durch Mara Burmester macht dieses Werk zu einem absoluten Schmuckstück im Bücherherbst!
Sven Puchelt
Unter den Wolken
Achim Bogdahn
In prominenter Begleitung auf die höchsten Berge aller 16 Bundesländer
Es begann mit einer Zeitungsmeldung über Brocken-Benno, einem 84-Jährigen Rentner aus Sachsen-Anhalt, der gerade zum achttausendsten Mal in seinem Leben auf den Brocken gestiegen war. Diesen Menschen wollte Achim Bogdahn, Radiomoderator beim BR,
unbedingt kennenlernen und mit diesem Mittelgebirgs-Titan wollte er gemeinsam auf den
Brocken. Es hat geklappt. Warum dann nicht auch die restlichen fünfzehn höchsten Berge der anderen Bundesländer besteigen? Um nicht allein wandern zu müssen, lädt er bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten aus der Region ein, ihn zu begleiten. Daraus ist ein wundervolles Buch über Deutschland entstanden. Voll überraschender Begegnungen und interessanter Gespräche. Achim Bogdahn versucht nur per Bahn anzureisen und übernachtet nicht in Hotels, sondern per Couchsurfing bei oft wildfremden Menschen. Auch das führt zu vielen unerwarteten und skurrilen Situationen. Da der Autor ein glühender Fan des TSV1860 München ist - er heißt offiziell Achim Sechzig Bogdahn - darf man nicht verschweigen, dass es auch ein kleines bisschen ein Buch über Fußball geworden ist. Beim Abstieg vom Langenberg, dem höchsten Berg von NRW, gerät z.B. Hans Joachim Watzke, Chef von Borussia Dortmund, in einen ganz persönlichen „Abstiegskampf“, als er im Dauerregen stürzt. Vielen Dank, lieber Achim Bogdahn, für diese kurzweilige, humorvolle und informative Reise durch Deutschland. Es wurde, nicht zuletzt wegen des passenden Soundtracks zum Buch, ganz unerwartet zu einem meiner Lieblingsbücher 2022.
Jeannine Beihofer
In 80 Kaffees um die Welt
Lani Kingston
Die Kaffeeexpertin Lani Kingston nimmt uns mit auf eine spannende Reise
Der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee ist doch der köstlichste der Welt, oder? Dieses wunderschöne Buch mit hervorragend ausgewählten Bildern macht Lust auf den nächsten Kaffeehaus-Besuch, nein, eigentlich ist das Buch selbst ein Kaffeehaus-Besuch.
Lassen Sie sich genauso nach Äthiopien wie nach Japan mitnehmen und in viele andere spannende Weltregionen. Überall wird Kaffee anders zubereitet und doch verbindet alle der unverwechselbare Geschmack und die Gemeinschaft, die durch das Zubereiten, das Zelebrieren entsteht. In Äthiopien zum Beispiel ist es ein festes Ritual, zusammen Kaffee zu trinken, es ist der Inbegriff äthiopischer Gastfreundschaft und wird sogar bei Friedenstreffen als Ritual zelebriert. „Kaffee trinkt man nicht allein“ ist die Anmerkung der Autorin in diesem Abschnitt des Buches. Wollen wir nicht alle wieder öfter zusammenkommen bei einer schönen Tasse Kaffee und uns austauschen, Zeit mit- und füreinander haben?
Theresia Oppold
Fischers Frau
Karin Kalisa
Die Autorin von „Sungs Laden“ erzählt auf märchenhafte Weise
Wussten Sie, dass es wie in unserer Geschichte tatsächlich ein mehrjähriges Fangverbot für Fischer gab und dass die arbeitslosen Fischer dann begannen, Teppiche zu knüpfen? Ich wusste es vor der Lektüre dieses Buches nicht.
Eines Tages landet auf dem Tisch der jungen Museumskuratorin Mia ein Teppich und während sie einerseits recherchiert, ob dieser Teppich echt ist, löst sie andererseits Knoten um Konten in ihrem eigenen Leben. Dies beschreibt und erzählt Karin Kalisa auf so wunderschöne Weise, ja, in einer fast märchenhaften Sprache. Sie nimmt uns mit an die baltische See und nach Zagreb. Wir tauchen ein in die Geschichte und bleiben dennoch im „Heute“ und „Jetzt“. Geschickt wie die Teppichknüpfer*innen verwebt Karin Kalisa die Zeitebenen und wir kommen bereitwillig mit auf die Reise. Was für ein Lesevergnügen!
Theresia Oppold
Wie man seine Tochter liebt
Hila Blum
Ein Roman über zwischenmenschliche Konflikte
Gibt es ein Zuviel an mütterlicher Liebe, Intimität und Nähe zur eigenen Tochter? Wann kippt Fürsorge in Übergriffigkeit und verhindert die Autonomie des Kindes? Diesen und ähnlichen Fragen spürt die israelische Autorin Hila Blum in ihrem Roman nach.
Lea hat den Kontakt zur Mutter abgebrochen und lebt mit ihrem Mann und den zwei Kindern im fernen Holland. In Israel lässt ihre Mutter Joela die Vergangenheit Revue passieren und sucht nach Erklärungen.
Jutta Schleinkofer
Lügen über meine Mutter
Daniela Dröscher
Schonungslos und eindrücklich
Wie lebt es sich als angeblich übergewichtige Frau, noch dazu polnischer
Herkunft, in einem kleinen Dorf im Hunsrück in den 70er und 80er Jahren des
20. Jahrhunderts? Ela, die Tochter, beschreibt aus dem Blickwinkel einer 7- bzw. 8-Jährigen das Leben ihrer Mutter, die lange Zeit zusammen mit ihrem Ehemann im Haus der
Schwiegereltern lebt. Die Beziehungen sind geprägt von den augenscheinlichen
Erwartungen einer kleinbürgerlichen Gesellschaft, die die Erwachsenen fast bis
zur vollständigen Aufgabe der eigenen Persönlichkeit verinnerlicht haben. Statussymbole, vermeintliche Schönheitsideale, ein übersteigertes Bedürfnis nach Anerkennung von außen bestimmen so das soziale Umfeld und vor allem die Welt des Ehemanns. Wie weit ist eine Frau mit einem großen Herzen, die klug ist und hübsch und leben möchte, bereit, für andere sich selbst aufzugeben, um diesen Erwartungen zu entsprechen, und erhält sie die
ersehnte Anerkennung? Klug wechseln sich Erzählung und analytische Rückblende durch die erwachsene Tochter ab, die Sprache spiegelt in vielen Redewendungen die Orientierung auf Äußerlichkeiten wider. Gleichzeitig verstörend und humorvoll und vor allem eine Liebeserklärung der Tochter an die Mutter. Absolut lesenswert.
Christa Seitz
An den Ufern von Stellata
Daniela Raimondi
„Hundert Jahre Einsamkeit“ auf Italienisch
Raimondi erzählt die epochale Geschichte einer italienischen Familie von 1800 bis in die 1970er Jahre. Angesiedelt ist sie in einem kleinen Dorf in der Po-Ebene mit dem poetischen Namen „Stellata“, sternenklar. Ein schöner Name für ein armes Dorf zwischen Straße und Fluss. Eines Tages kommt ein fahrendes Volk ins Dorf und muss wegen sintflutartiger Regenfälle dort überwintern. Damit nimmt das Schicksal der Familie Casadio seinen ganz besonderen Verlauf, denn der schwermütige, träumerische Giacomo verliebt sich in die zingara Viollca. Mit Viollca, die sich mit Federn schmückt und so ganz anders ist als die übrigen Frauen, beginnen magische und übersinnliche Ereignisse, die das Schicksal der Familie über Generationen hinweg bestimmen. Eine Familiensaga, eng verknüpft mit den großen Wendepunkten der europäischen Geschichte, die mich an die Erzählkunst des magischen Realismus von Marquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“ und Allendes „Das Geisterhaus“ erinnert hat.
Margret Thorwart
Freundin bleibst du immer
Tomi Obaro
Schicksalsschläge, Liebe und Freundschaft
Die drei Freundinnen Funmi, Enitan und Zainab haben in den 80er Jahren während des Studiums ein Zimmer geteilt. 30 Jahre später treffen sie sich anlässlich der Hochzeit von Funmis Tochter Destiny in Lagos wieder. Der Roman erzählt in Rückblenden, wie sich die drei Frauen kennengelernt und wie sich ihre Leben entwickelt haben. Als Funmis Tocher Destiny eine Entscheidung treffen muss, stehen die drei Frauen an ihrer Seite.
Obaros Roman ist ein Plädoyer für Freundschaft und Ehrlichkeit. Mich hat der Roman sehr berührt und ich hätte gerne noch mehr Zeit mit diesen besonderen Frauen geteilt.
Ulla Leber
Zur See
Dörte Hansen
Der lang erwartete dritte Roman der Bestsellerautorin
Nach „Altes Land“ und „Mittagsstunde“ nimmt uns Dörte Hansen in ihrem dritten Roman mit auf eine fiktive Nordseeinsel. Dort begleiten wir die Familie Sander, die seit fast 300 Jahren von der Seefahrt lebt. Wir sehen den Wandel der Insel, wir sehen aber auch die Veränderungen innerhalb der Familie und der Inselgemeinschaft. Wir erfahren unter anderem, dass die Mütter in den Sommerwochen anders waren als sonst: „Im Sommer wurden Inselkinder unsichtbar, wie Flaschengeister. Luftwesen, von Juni bis August.“ Dörte Hansen hat eine sehr warmherzige Art über ihre Protagonist*innen zu schreiben, voll liebevoller Details und doch können wir die Wucht und die Kälte der Nordsee spüren. Auch die vielen nicht ausgesprochenen Dinge, die einer Familie den Boden unter den Füßen wegziehen können, thematisiert sie in einer Art und Weise, die leicht und schwer zugleich ist. Immer wieder habe ich zurückgeblättert, einen Satz noch einmal gelesen. Herrlich, wenn ein Buch eine solche Wirkung hat. Ich lege es Ihnen ans Herz!
Theresia Oppold
Der Markisenmann
Jan Weiler
Großartige Vater-Tochter Geschichte
Dieser Roman ist so ganz anders als die bisherigen Bücher von Jan Weiler. Die Geschichte spielt im Jahr 2005, Ich-Erzählerin ist die 15-jährige Kim, die mit ihrer Mutter, dem Stiefvater Heiko und dem Halbbruder Geoffrey in einer Villa in Köln lebt. Sie fühlt sich ungeliebt und vernachlässigt, strengt sich in der Schule nicht an, klaut aus Langeweile, testet alle Grenzen aus. Und dann wird Geoffrey durch Kims Schuld bei einem Unfall schwer verletzt. In den Sommerferien darf sie deshalb nicht mit nach Florida, sondern wird zu ihrem richtigen Vater geschickt: Ronald Papen, den sie seit 13 Jahren nicht gesehen hat. Er lebt in einer Lagerhalle im Industriegebiet von Duisburg. Zum Wohnen hat er einen Teil der Halle mit schwarzem Stoff abgetrennt.
Kim plant schon ihre Flucht, aber dann passiert etwas, womit sie nicht gerechnet hat: Sie mag ihren Vater. Ronald ist ein kleiner, sanfter Mann, der gut zuhören kann und keine bohrenden Fragen stellt. Und Kim lässt sich auf ihn ein. Sie will Antworten von ihm. Warum er ihre Mutter verlassen hat, seit 14 Jahren zwischen Autowerkstatt und Recyclinghof lebt und jeden Tag das Ruhrgebiet abfährt, bei Leuten mit Balkon klingelt und versucht, ihnen eine Markise aus DDR-Restbeständen zu verkaufen.
In diesem Sommer verändert sich das Leben aller Beteiligten und ein lang gehütetes Familiengeheimnis, das seinen Ursprung in der DDR hatte, wird gelüftet.
Barbara Casper
Girl in the walls
A .J. Gnuse
Wenn du Schritte im Haus hörst, Sachen verschwinden oder an anderen Orten auftauchen…
…dann weißt du, du bist nicht allein. Nur diesmal wird die Geschichte aus Sicht derjenigen erzählt, die mit leisen Füßen über den Dachboden huscht, sich Bücher aus dem Regal ,,ausleiht‘‘ oder lauschend in der Wand sitzt.
Dies ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das nach dem Tod ihrer Eltern aus dem Waisenhaus flieht und sich in ihr altes Zuhause schleicht. Doch mittlerweile lebt dort eine neue Familie. Die zwei Söhne vermuten bald, dass die Südstaaten-Villa heimgesucht wird, und versuchen auf eigene Faust das ,,Böse‘‘ auszutreiben.
Das Buch fasziniert auf mehreren Ebenen: Eine Geschichte über den Verlust der Eltern, ein Thriller, der nicht mehr loslässt, und eine Villa so gut beschrieben, dass man schon fast das Gefühl hat, als wohne man selbst darin.
Marlene Waidele
Mädchen auf den Felsen
Jane Gardam
Endlich wieder ein früher Roman der grandiosen Jane Gardam übersetzt!
Die achtjährige Margaret Marsh wächst in den Jahren zwischen den Weltkriegen in einem englischen Küstenort auf. Ihre Eltern gehören einer streng religiösen christlichen Gemeinschaft an, in der alle weltlichen Freuden verpönt sind. Gerade hat Margaret einen kleinen Bruder bekommen. Um Margaret Gesellschaft zu leisten, kommt ein Hausmädchen in die Familie – Lydia. Lydia besitzt eine starke körperliche Präsenz und ein sogenanntes loses Mundwerk. Ein Hauch von Freiheit, Unruhe und Ungleichgewicht kommt in das strenge Haus der Marshs. Großartig!
Jutta Schleinkofer
Unsre verschwundenen Herzen
Celeste Ng
Ein Roman über die Liebe in einer von Angst zerfressenen Welt
Der neue Roman von Celeste Ng spielt in einer Zeit „nach der großen Krise“ in Amerika. Das Leben der Menschen wird bestimmt durch Gesetze und Vorschriften, die nach Jahren von wirtschaftlicher Instabilität und geprägt durch viel Gewalt die „amerikanische Kultur“ bewahren sollen. Diese neuen Gesetze erlauben zum Beispiel, dass Kinder zwangsweise zur Adoption freigegeben werden, speziell Kinder asiatisch aussehender Menschen.
Es ist eine Mutter-Sohn-Geschichte, genauso ist es eine Vater-Sohn-Geschichte. Vor allem aber ist es eine unglaublich berührende Geschichte über mutige Menschen, die sich „gegen das Unrecht in der Welt zur Wehr setzen“ wie die Autorin ihrem Roman in ein paar persönlichen Zeilen voranstellt. Sie zeigt uns Leser*innen, wie wichtig es ist, in dunklen Zeiten, in Zeiten der Isolierung, in allen Zeiten, unsere Menschlichkeit zu bewahren.
Theresia Oppold
Isidor
Shelly Kupferberg
Ein bewegendes Leben
Ursprünglich war das gesammelte Material der Autorin über ihren Urgroßonkel Isidor als Grundlage für ein Radiofeature gedacht. Nachdem Nelly Kupferberg, Journalistin und Radiomoderatorin, auf immer mehr Spuren trifft, entschließt sie sich einen Roman zu schreiben und Isidor eine Stimme zurückzugeben.
Isidor wächst in einer streng orthodoxen jüdischen Familie in Ostgalizien auf. Schon früh fühlt er sich zur Kunst und der Oper hingezogen und unternimmt alles, sein ärmliches Leben hinter sich zu lassen. Er schafft es, in Wien Fuß zu fassen, und steigt zu einer in der Öffentlichkeit angesehenen Person auf. Isidor zelebriert sein Leben selbstbewusst und in vollen Zügen, bis 1938 die Nazis an die Macht kommen. Isidor ignoriert die Gefahr und wiegt sich in Sicherheit. Am Tag nach der Machtübernahme der Nazis wird er gefangen genommen. Schockiert verfolgt man den abrupten Absturz dieser schillernden Persönlichkeit. Deshalb finde ich es umso schöner, dass Shelly Kupferberg durch diesen Roman ihrem Urgroßonkel zurück in die Öffentlichkeit verhilft und so sein bemerkenswertes Leben nicht in Vergessenheit gerät.
Patricia Mock
Ewig Sommer
Franziska Gänsler
Waldbrandgefahr!
Endzeitstimmung in einem ehemaligen Kurort, ein Jahr – irgendwann in nicht ganz so ferner Zukunft –, in dem die sommerliche Hitze nicht endet und mit ihr die Waldbrände. Permanenter Ausnahmezustand, der von den restlichen verbliebenen Einwohnern bereits mit einer gewissen Routine absolviert wird.
Im Zentrum der Geschichte steht Iris – Hotelbesitzerin ohne Anhang und ohne Gäste. Als eines Tages eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter bei ihr strandet, gerät Iris‘ einsames, aber stabiles geordnetes Leben aus der Balance. Ein kleiner, feiner Debütroman mit einer Prise „Grusel“, ausgelöst durch die im Hintergrund ablaufenden, aber auch ganz real die Handlung bestimmenden Auswirkungen der Klimakatastrophe.
Jutta Schleinkofer
Jahre mit Martha
Martin Kordic
Was bedeutet Heimat?
Die Geschichte, die uns Martin Kordic erzählt, handelt von Zeljko, von allen Jimmy genannt, Sohn bosnisch-kroatischer Einwanderer. Seine Eltern malochen auf dem Bau und in der Reinigungsbranche, um den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Jimmy arbeitet hart daran, der „Ausländerschublade“ zu entkommen. Mit 15 Jahren trifft er auf die deutlich ältere Martha, die all das besitzt, was Jimmy erreichen möchte: Bücher, Bildung, Niveau. Zwischen den beiden entwickelt sich eine starke Anziehung und Martha eröffnet ihm einen Weg zu einer bisher verschlossenen Welt. Es stellt sich heraus, dass das nicht ausreicht. Jimmy muss allein zu Zeljko zurückfinden.
Ein sehr bewegender Roman, der auf eine unaufgeregte und direkte Weise die Schwachstellen der Integration offenlegt. Martin Kordic schafft es, dass man den schwammigen Begriff „Heimatlosigkeit“ auf besondere Art nachempfinden kann.
Patricia Mock
Crossroads
Jonathan Franzen
Meisterlich erzählt
Jonathan Franzen ist bekannt für literarische Schwergewichte. Mit diesem über 800 Seiten starken Roman hat er mir große Freude bereitet. Im Zentrum der in den frühen 1970er Jahren angesiedelten Handlung steht die weiße protestantische Pastorenfamilie Hildebrandt. Vater Russ, Mutter Marion und ihre vier größtenteils jugendlichen Kinder. Unter der Oberfläche brodelt ein ganzes Inferno aus Selbstzweifeln, Demütigungen, Neid und Konflikten, befeuert von den hohen eigenen religiös geprägten Vorstellungen moralischer Perfektion. Franzen wechselt die Perspektiven und so könne die Leser*innen in die jeweiligen Abgründe der einzelnen Figuren psychologisch tief und ausführlich eintauchen.
Jutta Schleinkofer
Das Versprechen
Damon Galgut
Booker Prize 2021
Vor dem Hintergrund der Geschichte Südafrikas erzählt Damon Galgut vom Schicksal der weißen Farmersfamilie Swart. Politisch spielt der Roman in der Zeit der Apartheid bis heute. Als die Mutter der Familie mit 40 an Krebs stirbt, verfügt sie, dass die schwarze Haushaltshilfe Salome ein kleines Häuschen auf dem Grundstück der Familie erbt. Amor, die jüngste Tochter, war dabei, als ihre Mutter Salome das Versprechen gab. Dies wird sowohl vom Gatten als auch von drei der vier Kinder ignoriert. Immer wieder setzt sich Amor dafür ein, aber ohne Erfolg. Galgut verknüpft die persönlichen Schicksale, den Streit ums Erbe und um Moral mit der rassistischen Geschichte Südafrikas. Das Versprechen wird erst am Ende, nach 30 Jahren, von Amor eingelöst. Wer sich mit der Geschichte Südafrikas beschäftigt hat, wird sehr beeindruckt sein von diesem Roman. Denn das Versprechen bezieht sich auch auf das politische Südafrika.
Barbara Casper
Susanna
Alex Capus
Die Geschichte einer Schweizerin, die nach Amerika auswanderte und Sitting Bull porträtierte
Wie meistens in seinen Romanen gibt es einen historischen Hintergrund, um den Capus eine Geschichte kreiert. Das gelingt ihm in den meisten Fällen ziemlich gut.
Dieses Mal erzählt er die Geschichte von Caroline Weldon, geboren als Susanna Caroline Faesch in Kleinbasel 1844. Zusammen mit ihrer Mutter wandert sie als Kind nach Amerika aus. Zurück bleiben der Vater und die Brüder. Ihre ebenfalls sehr wagemutige Mutter folgte dem Revolutionär Karl Valentiny nach New York. Schon als Kind sehr eigenwillig, entwickelt sich Susanna in der neuen Welt zu einer beeindruckenden und sehr emanzipierten Frau. Als Malerin Caroline Weldon verdient sie ihren Lebensunterhalt mit Porträtmalerei. Sie heiratet, lässt sich scheiden, bekommt einen Sohn, den sie zusammen mit ihrer Mutter großzieht. Die Mutter hinterlässt ihr ein beträchtliches Vermögen, das es ihr und Christie ermöglicht, sich mit dem Planwagen auf eine abenteuerliche Reise in den Westen aufzumachen. Ziel ist das Indianergebiet im Dakota-Territorium…
So könnte es gewesen sein, man weiß es nicht genau! (Zitat des Autors)
Entscheidend ist, dass sich daraus für einen guten Geschichtenerzähler wie Capus eine gute Geschichte erzählen lässt.
Margret Thorwart
Im Menschen muss alles herrlich sein
Sascha Marianna Salzmann
Ein literarisch großartiges Buch
Sasha Marianna Salzmann erzählt die Geschichten zweier Mütter und Töchter. Im Zentrum des Romans Lena, beginnend mit deren Kindheit in den 1970er Jahren im ukrainischen Teil der Sowjetunion. Lenas Leben ist geprägt von der Krankheit der Mutter, Besuchen bei der Großmutter in Sotchi und später regelmäßigen Ferien im Pionierlager. Lena wächst heran, wird Ärztin und emigriert mit Mann und Tochter Edi nach Deutschland. Dort landen sie in Jena, wohin es auch Tatjana mit ihrer Tochter Nina verschlägt.
Die Autorin beschäftigt sich mit der Frage nach Identität in einem diktatorischen Kollektiv und mit dem alltäglichen Überlebenskampf in einem korrupten System. Was passiert, wenn es dieses System nicht mehr gibt? Wollen Kinder die Erfahrungen ihrer Eltern überhaupt sehen und nachvollziehen? Wie schauen Mütter auf Töchter und umgekehrt? Können sich Generationen wirklich verstehen? Die Autorin lenkt den Blick auf diese und viele weitere existenzielle Themen.
Jutta Schleinkofer
Klara vergessen
Isabelle Autissier
Bewegende Familiengeschichte
Juri, der als Ornithologe in den Vereinigten Staaten von Amerika lebt und als Professor an der Universität doziert, stammt ursprünglich aus Murmansk in Russland. Vor 23 Jahren hat er seine Heimat verlassen und ist nie mehr dorthin zurückgekehrt. Doch nun erhält er die Nachricht, dass sein Vater Rubin, zu dem er den Kontakt abgebrochen hatte, im Sterben liegt und ihn unbedingt noch einmal sehen möchte. Juri reist also nach Russland. Im Krankenhaus erfährt er von Rubin, was diesen sein Leben lang nicht losgelassen hat: Rubin war vier Jahre alt, als er während des Stalinregimes mitansehen musste, wie seine Mutter Klara, eine Wissenschaftlerin, nachts von zu Hause abgeholt wurde. Seitdem war sie verschwunden. Rubin bittet nun seinen Sohn herauszufinden, was damals wirklich mit Klara geschehen ist. Juri begibt sich auf Spurensuche.
Ulla Leber
Lincoln Highway
Amor Towles
Im Studebaker durch die USA
Nebraska, Mitte der 50er Jahre. Emmet hat es nicht leicht. Gerade ist der 18j-Jährige von einem einjährigen Aufenthalt in der Besserungsanstalt Salina auf die heimische Farm zurückgekehrt. Sein inzwischen verstorbener Vater hat hohe Schulden hinterlassen und so stehen Emmet und sein kleiner, hochintelligenter Bruder Billy vor dem Nichts. Aber Emmet und Billy haben einen Plan und so machen sie sich zu einer Reise nach Kalifornien auf, wo Emmet hofft, Geld verdienen zu können, und Billy, Spuren der verschwundenen Mutter zu finden. Aber dann tauchen Duchess und Wally, zwei Jungs, die Emmett in Salina kennengelernt hat, auf und die Reise geht erst einmal nach Osten, Richtung New York. Amor Towles erzählt von großen Plänen, erfülltem und enttäuschtem Vertrauen, von Steinen, die einem in den Weg gelegt werden oder die man sich selbst in den Weg legt. Und wie schon in seinen Büchern „Eine Frage der Höflichkeit“ und „Ein Gentleman in Moskau“ besticht der Autor durch seinen wunderbaren Erzählstil, der die Leser*innen an der Hand nimmt und liebevoll durch die Geschichte mit all ihren kleinen Nebensträngen führt.
Sven Puchelt
Lightseekers
Femi Kayode
Beeindruckendes Krimidebüt
Im Oktober 2012 wurden im Südosten Nigerias vier Studenten von einer aufgebrachten Menschenmenge durch die Stadt gejagt und danach angezündet. Diese wahre Begebenheit greift der aus Nigeria stammende Psychologe Femi Kayode in seinem Debüt „Lightseekers“ auf: In Okriki, einem Vorort der nigerianischen Universitätsstadt Port Harcourt, werden drei Studenten von einem aufgebrachten Mob durch die Stadt gejagt, verprügelt und letztendlich verbrannt. Die Studenten wurden des Diebstahls verdächtigt. Es gibt ein Handyvideo des Geschehens. Dr. Philip Taiwo stammt aus Nigeria, hat aber in den Vereinigten Staaten Kriminalpsychologie studiert und ist inzwischen wieder nach Nigeria zurückgekehrt. Der Vater eines der drei Studenten bittet Dr. Taiwo herauszufinden, was an diesem Tag wirklich geschehen ist, und die Hintergründe aufzuklären. Dr. Taiwo beginnt zu ermitteln, doch er stößt auf große Ablehnung der Menschen in Port Harcourt.
„Lightseekers“ ist ein äußerst spannendes Krimidebüt mit einer sehr menschlichen und sympathischen Ermittlerfigur. Der Autor gibt einen Einblick in die Gesellschaft des Landes Nigeria und er zeigt kritisch auf, wie Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit in der Bevölkerung zu einer furchtbaren Tat führen.
Ulla Leber
Sturmrot
Tove Alsterdahl
Eira Sjödin ermittelt
Olof Hagström war 14 Jahre alt, als er gestand, die junge Lina Stavred vergewaltigt und getötet zu haben. Aufgrund seines damaligen Alters wurde er nicht verurteilt. Olof musste seine Jugend in einem Heim verbringen und der Kontakt zu seiner Familie brach ab. Zwanzig Jahre später findet Olof seinen Vater tot zu Hause auf – getötet mit einem Jagdmesser. Sofort fällt der Verdacht auf Olof.
Polizistin Eira Sjödin hat Stockholm verlassen und ist in ihre Heimat zurückgekehrt, um sich um ihre an Demenz erkrankte Mutter zu kümmern. Sie ermittelt im Fall von Olofs Vater und ihre Nachforschungen führen sie 20 Jahre zurück - zu dem Mord an Lina.
Der spannende erste Fall der neuen Krimireihe um Polizistin Eira Sjödin. Absolut lesenswert!
Ulla Leber
Die Tote im Sturm
Kristina Ohlsson
Spannung an der malerischen Westküste Schwedens
Die Lehrerin Agnes Eriksson verlässt das Haus, um vor dem Sturm nach dem Boot zu sehen, und verschwindet. Am selben Tag kommt der Stockholmer Vermögensverwalter August Strindberg in den Ort, um einen Second Hand Laden zu eröffnen. Er möchte die Großstadt hinter sich lassen und in Westschweden ein neues Leben beginnen. Vor vielen Jahren verschwand hier schon einmal eine junge Frau, Lydia Brogman. Ohne es zu wissen, zieht Strindberg in das Haus der damals ermordeten Frau und gerät mitten in die Ermittlungen. Die Kommissarin Maria Martinsson ist ihm sogleich sympathisch. Sie leitet den Lesekreis von Hovenäset, zu dem August eingeladen wird, da er so heißt wie der bekannte Schriftsteller. Die Suche nach Agnes gestaltet sich schwierig und die prekäre private Situation der Kommissarin macht es nicht einfacher. Ein toller Auftakt zu einer neuen Krimireihe von Kristina Ohlsson. Ich freue mich schon auf den nächsten Fall, der 2023 erscheint.
Jeannine Beihofer
Das tiefschwarze Herz
Robert Galbraith
Wer ist Anomie?
Edie Ledwell, Co-Entwicklerin der Kultserie „Das tiefschwarze Herz“, wird durch einen Fan der Serie im Netz unter dem Pseudonym Anomie terrorisiert. Ledwell nimmt Kontakt mit der Detektei auf, sie will unbedingt herausfinden, wer hinter „Anomie“ steckt. Robin schickt sie weg, die Detektei kann in dem Fall leider nicht weiterhelfen.
Ein paar Tage später wird Edie tot aufgefunden, Co-Entwickler Josh Blay ist schwer verletzt. Die Detektei wird angeheuert, um herauszufinden, wer sie ermordet hat. Cormoran Strike und seine Geschäftspartnerin Robin Ellacott ermitteln in einem komplexen Netzwerk aus Online-Pseudonymen mit zahlreichen Verdächtigen. Aber auch private Schwierigkeiten rücken in den Vordergrund.
J.K. Rowling ist unter ihrem Pseudonym, Robert Galbraith, ein mitreißendes Buch gelungen, das bis zum Schluss spannend bleibt. Eine klare Empfehlung für alle Fans der Strike-Reihe.
Victor Gadd (17 Jahre)
Cooper
Jens Eisel
Dies ist die faszinierende Geschichte der rätselhaftesten Flugzeugentführung der USA
D.B. Cooper ist eine Legende: Im Jahr 1971 erpresste er auf dem Flug von Portland nach Seattle 200.000 US-Dollar und vier Fallschirme. Bei einem Weiterflug Richtung Süden springt er mit einem Fallschirm über dem Bundesstaat Washington aus der Heckklappe des Flugzeugs. Von da an verliert sich seine Spur bis heute.
Er wird als Dan Cooper in die Geschichte eingehen und doch ein Unbekannter bleiben. Das FBI hat den Fall ungelöst zu den Akten gelegt. Was passierte mit Cooper nach seinem Fallschirmsprung? Jens Eisel versucht in seinem Buch eine glaubhafte Version wiederzugeben. Doch auch er lässt die Zukunft Coopers unbeantwortet.
Thorben Ernst
Wir können auch anders
Maja Göpel
Aufbruch in die Welt von morgen
Dass wir etwas ändern müssen, ist uns allen klar. Dass dies bald – eigentlich jetzt – sein muss, ist uns vermutlich auch klar. Maja Göpel bringt uns die Zusammenhänge unserer Welt von heute und was wir ändern müssen für die Welt von morgen auf sehr einleuchtende Art und Weise nahe. Sie ist Mit-Begründerin der Initiative „Scientists for Future“ und sie hat, seit ihr erstes Buch („Unsere Welt neu denken“) ein Riesenerfolg war, ihren Fokus auf Wissenschaftskommunikation gelegt. Ich wünsche diesem Buch so viele Leser wie nur möglich! Es ist höchste Zeit, dass wir uns einbringen! Jede und jeder einzelne! Es ist wichtig, dass wir uns austauschen mit anderen. Dann werden wir sehen: „Wir können auch anders“. Aber warten wir nicht mehr zu lange.
Theresia Oppold
Der Schneeleopard
Sylvain Tesson
Eine faszinierende Reise in eine ferne Welt
Der Reiseschriftsteller Sylvain Tesson unternimmt zusammen mit dem Fotografen Vincent Munier eine Reise ins tibetische Hochland. Fernab aller Zivilisation begeben sie sich auf die Suche nach einem der seltensten Tiere dieser Erde, dem Schneeleoparden.
Es wird eine literarische und meditative Reise auch für Tesson selbst. Zusammen mit Muniers Bildband „Zwischen Fels und Eis: Auf den Spuren der letzten Schneeleoparden in Tibet“ erhält der Leser/Betrachter einen tiefen Einblick in die überwältigende Schönheit dieser Landschaft.
„Eine Abenteuergeschichte und eine spirituelle Suche. Ein Lob der Geduld, der Wildnis und der Schönheit“ (François Busnel, La grande librairie).
Das Buch öffnet die Augen für die Schönheit einer Landschaft, nicht nur im fernen Asien….
Inzwischen auch als DVD erhältlich.
Christa Seitz
Sergei Prokofiev: Violinkonzerte Nr. 1 & 2
Tianwa Yang & Jun Märkl & ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Opus Klassik 2022 an Tianwa Yang
Die Geigerin Tianwa Yang wurde für ihre Aufnahmen der beiden Violinkonzerte von Sergei Prokofiev mit dem RSO Wien unter Jun Märkl mit dem Opus Klassik als Instrumentalistin des Jahres ausgezeichnet. Dass mit Tianwa Yangs ebenso virtuosem wie betörend intensivem Geigenspiel die beiden Prokofiev-Konzerte zu einem besonderen Genuss werden würden, war zu erwarten. Hinzu kommt, dass die Violinistin in Jun Märkl einen kongenialen Partner gefunden hat, mit dem sie zu einer spürbar harmonischen und sehr farbigen Interpretation fand. Bereits der Beginn des 1. Konzerts lässt aufhorchen. Es ist, als komme der reich und ungewohnt eingefärbte, lichtvolle Klang von weit her, irgendwo aus dem Jenseits, um sich zu einem verspielten Tanz zu entwickeln, in dem es spannungsvoll funkt und blitzt. Der zweite Satz macht nicht den Eindruck eines atemlosen musikalischen Wettlaufs, wie man ihn sonst manchmal hört, sondern Tianwa Yang entwickelt darin einen sehr beschwingten und lebensfrohen Tanz mit viel Humor. Der mitunter etwas skurrile Finalsatz wird sehr differenzierend gestaltet, hat aber immer einen positiven Grundton.
Nicht weniger reizvoll erklingt das 2. Prokofiev-Konzert, das von der Geigerin sowohl großes technisches Können als auch Kantabilität verlangt. Die bizarren Tanzrhythmen und die lyrischen Partien dieses Konzerts werden überzeugend zu einem homogenen Ganzen gefügt. Zusammen mit dem Raffinement des Spiels der Solistin schafft das kräftige, pulsierende Musizieren des Wiener Radio-Symphonieorchesters unter Jun Märkl eine atmosphärische Dichte, die dem Konzert ein ganz besonderes Espressivo verleiht.
Wir gratulieren unserer Kundin Tianwa Yang zum Opus Klassik 2022 und freuen uns mit ihr über diese Auszeichnung!
Barbara Casper